Annemarie Schimmel: Eine Vorreiterin des interreligiösen Austauschs
Eine Motivation für unser Engagement bei As Surur ist unter anderem der interreligiöse Austausch und die Verständigung. Musik ermöglicht Begegnungen zwischen Menschen, die sich im Alltag vielleicht nicht begegnen würden. Musik kann Gräben überbrücken: Gräben, die sich durch die Kreuzzüge, die Reconquista, die osmanische Belagerung Wiens, Kolonialismus oder Extremismus tief in das kollektive Gedächtnis von Muslimen und Nichtmuslimen eingegraben haben. Manche sind sich dessen bewusst, andere nicht.
Ein herausragendes Vorbild für den interreligiösen Austausch war Annemarie Schimmel (1922–2003). Auch wenn sie keine Musikerin war, ist sie dennoch eine wegweisende Persönlichkeit. Im Folgenden werden wir mehr über sie und ihre inspirierenden Ansätze des interreligiösen Austauschs erfahren.
Prof. Dr. Mult. Annemarie Schimmel
Die frühen Jahre und ihre Liebe zur islamischen Kultur
Die im Jahr 1922 in Erfurt geborene Schimmel wuchs in einem protestantischen Elternhaushalt auf. Doch schon in jungen Jahren entdeckte sie ihre Liebe zur islamischen Kultur und Religion. Sie fühlte sich besonders von der Poesie Rumis und anderer Sufi-Mystiker angezogen und begann voller Begeisterung Arabisch, Persisch und Türkisch zunächst eigenständig zu lernen, um deren Werke besser zu verstehen.
Akademische Karriere und internationale Lehre
Schimmel studierte später in Berlin Arabisch, Persisch und Islamwissenschaften. Sie wurde eine überaus begnadete Akademikerin und hat an renommierten Lehreinrichtungen in Marburg, Ankara, Bonn und sogar an der Harvard University geforscht und gelehrt. Im Laufe ihrer beeindruckenden Karriere veröffentlichte Schimmel mehr als 50 Bücher und zahlreiche Artikel über islamische Mystik, Poesie und die Rolle der Frau im Islam. Sie sprach fließend Arabisch, Persisch, Türkisch und Urdu und hat längere Zeit in muslimisch geprägten Ländern wie Pakistan und dem Iran gelebt.
Wegweisende Forschung über den Sufismus
Schimmels Arbeit über den Sufismus ist besonders bemerkenswert, da sie die engen Stereotypen des Islams, die im Westen oft aufrechterhalten werden, in Frage stellt. Sie war fasziniert von den spirituellen und mystischen Aspekten des Islams und glaubte, dass der Sufismus einen wichtigen und oft übersehenen Aspekt der islamischen Kultur darstellt. Ein großer Teil ihrer Forschungen und Schriften ist der Erforschung der Geschichte, Praxis und Lehre des Sufismus gewidmet. Schimmels Bücher über den Sufismus, darunter "Mystische Dimensionen des Islam" und "Dschalal ad-Din Rumi: Seht, das ist Liebe", gelten als bahnbrechende Werke auf diesem Gebiet und werden von Wissenschaftlern sowie von Interessierten bis heute viel gelesen.
Schimmel als Brückenbauerin
Ihre Forschung war geprägt von einer tiefen Wertschätzung für die Komplexität und Vielfalt der islamischen Kultur, und sie war bekannt für ihre sensible Herangehensweise an die Thematiken. Einer der wichtigsten Beiträge von Schimmels wissenschaftlichen Schriften war ihre Fähigkeit, die Kluft zwischen der islamischen und der westlichen Welt zu überbrücken. Ihr tiefes Verständnis sowohl der islamischen als auch der westlichen intellektuellen Traditionen ermöglichte es ihr, komplexe Ideen in einer für ein breites Publikum verständlichen Weise zu vermitteln.
Inspiration und humanitäres Engagement
Ihre Schriften waren für Akademiker und Akteure aus der Zivilgesellschaft gleichermaßen eine inspirierende Quelle neuer Gedanken. Sie war eine gern gesehene Gastrednerin bei verschiedenen Veranstaltungen, sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Es war ihr eine große Freude, der Zuhörerschaft aus ihrer Forschung sowie von ihren persönlichen Erfahrungen zu berichten. Doch viele wissen nicht, dass Schimmel sich auch an vielen Austauschprogrammen beteiligt hat, zum Beispiel am Deutsch-Pakistanischen Forum. Außerdem hat sie sich aktiv in der humanitären Hilfe engagiert. Eines von vielen Beispielen für ihr humanitäres Engagement ist ihre Unterstützung bei der Verbesserung von Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens in mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern.
Ein Zitat von Ali Ibn Abi Talib, Schwiegersohn des Propheten Muhammad ﷺ, ziert den Grabstein Annemarie Schimmels in Bonn.
Schimmels Vermächtnis
Es lässt sich schließlich sagen, dass Annemarie Schimmel durch ihr Lebenswerk eindrucksvoll gezeigt hat, wie fruchtbar der interreligiöse Austausch sein kann. Ihre tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Islam und ihre Fähigkeit, Brücken zwischen Kulturen und Religionen zu bauen, bleibt auch heute von großer Relevanz. Sie hat nicht nur wissenschaftlich, sondern auch menschlich gezeigt, wie wertvoll es ist, sich offen und respektvoll mit anderen Glaubensrichtungen auseinanderzusetzen.
Ein Appell für interkulturelle Verständigung
In einer zunehmend polarisierten Welt, in der Differenzen oft im Vordergrund stehen, erinnert uns Schimmel daran, dass Verständnis, Empathie und Bildung der Schlüssel zu einem friedlichen Miteinander sein können. Ihr Vermächtnis lädt uns ein, im Austausch zu bleiben und die Schönheit in der Vielfalt zu entdecken.
“(...) Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. (...)” - Koran 49:13
Schimmels Übersetzungen in der Praxis
Schimmel übersetzte auch einige türkische Gedichte des berühmten Mystikers Yunus Emre (1240-1320/21) ins Deutsche. Unter den übersetzten Gedichten finden sich beliebte Klassiker wie “Dağlar ile taşlar ile” (dt. “Mit Bergen und mit Steinen”) oder “Şol cennetin ırmakları” (dt. “Paradiesflüsse”). Durch die freundliche Erlaubnis der Annemarie-Schimmel-Stiftung dürfen wir einige dieser Übersetzungen nutzen und vertonen.
Unser Kinderchor, die As Surur Kids, singen mit großer Freude diese Lieder, sei es während der Proben oder wie in dem hier verlinkten Video.
Quellen:
Schimmel, Annemarie; “Morgenland und Abendland : mein west-östliches Leben”; München: Beck, 2003
Schimmel, Annemarie; “Secrecy in Sufism”, in “Secrecy in Religions”, Hg. Bolle, Kees W.; Numen Book Series Band 49; Leiden, Bosten: Brill, 1987
Schimmel, Annemarie; “To Sum Up”, In “Gabriel's Wing: A Study of the Religious Ideas of Sir Muhammad Iqbal”, Schimmel; Numen Book Series Band 6; Leiden, Bosten: Brill, 1963
“"Ich kann nicht arbeiten über etwas, das ich nicht liebe!" – Zum Gedenken an Annemarie Schimmel”;
Sakr, Taha; “What You Should Know about Annemarie Schimmel’s pioneering take on Islam”;
Weidner, Stefan; “Annemarie Schimmel’s pioneering take on Islam”;
Weidner, Stefan; “On the threshold of a new epoch: Annemarie Schimmel and the mediation of culture between Germany and the Islamic world”. In: Art & Thought. Fikrun wa Fann 79 (2004)